Kolumne

In Schale geworfen

Wenn es bei uns zuhause Eier in Senfsauce gab, waren die Eier immer mehr wert als die Kartoffeln.
In Schale geworfen

Wenn es bei uns zuhause Eier in Senfsauce gab, waren die Eier immer mehr wert als die Kartoffeln. Eifrig stocherten meine Brüder und ich auf der Suche nach dem womöglich letzten Ei mit unseren Gabeln in der cremiggelben Sauce. Wer tatsächlich noch eines fand, war der Held des Tages – die anderen bekamen Kartoffeln. Wir wussten, woher die Eier kamen: Herr Martens brachte sie uns, ein älterer Herr in grauem Anzug, mit grauem Hut und einer großen schwarzen Ledertasche. Darin konnte er zehn Kartons à zehn Eier transportieren. Denn Herr Martens hatte einen kleinen Hof mit einigen hundert Hühnern. Er war der Eiermann und kam einmal die Woche an unsere Haustür. Jeden Samstagvormittag um zehn. Man konnte die Uhr nach ihm stellen. Meist brachte er 30 Eier, an Weihnachten und Ostern mindestens 40, eher 50. Und die leeren Pappen der Vorwoche nahm er immer wieder mit. Ei frei Haus – was für ein Service!

Nur ein einziges Mal in vielen Jahren kam Herr Martens nicht: Im Winter 1978/1979 war das. Die größte Schneekatastrophe der deutschen Nachkriegsgeschichte legte das Leben lahm. Also stapften meine Brüder, mein Vater und ich los, um die Eier zu holen. Quer über die Felder kämpften wir uns durch den meterhohen Schnee. Keine drei Kilometer waren es bis zum Hof von Herrn Martens. Ich weiß noch, wie wir uns ernsthaft darüber unterhielten, ob auch Hühner frieren. Erst nach fünf Stunden waren wir wieder zuhause.

Herr Martens kommt schon lange nicht mehr. Irgendwann musste er seinen Hof und die Hühner aufgeben. Selbst seine treuesten Kunden kauften die Eier nun im Supermarkt oder beim noch viel billigeren Discounter. Die Zeiten haben sich geändert: Heute gibt es keine Eiermänner mehr. Jedes Ei hat einen Zahlen-Buchstaben-Code. Es gibt Käfig- und Boden-, Freiland- und Bio-Eier. Es gibt normierte Gewichtsklassen von XL- bis S-Größen – das Ei wird in Schale geworfen. Die Hühner heißen nicht mehr Bärbel oder Elvira, sondern tragen Namen, die wie auf Leistung gezüchtete Maschinen klingen: H&N braun oder Lohmann LSL-Classic. Und selbst die Eierpappen dürfen aus Hygienegründen nicht noch einmal genommen werden und landen im Altpapier. Das Ei ist der Inbegriff des einfachen, bodenständigen Lebensmittels. Doch warum nur ist alles so kompliziert geworden? Herr Martens fehlt mir.

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